Im Wortlaut von Katja Kipping, 14. Oktober 2016
Jasper Barenberg: Wie konnte geschehen, was nicht geschehen durfte, dass sich der Terrorverdächtige Jaber al-Bakr in seiner Zelle mit seiner Häftlingskleidung das Leben nehmen konnte, und zwar in einer Zeitspanne von 15 Minuten? Darüber wird seit gestern heftig diskutiert. Die Verantwortlichen in Sachsen wollen nichts falsch gemacht haben. Für einen Rücktritt sieht Justizminister Sebastian Gemkow daher keinen Anlass.
Am Telefon ist Katja Kipping, die Co-Vorsitzende der Linkspartei. Schönen guten Morgen, Frau Kipping.
Katja Kipping: Einen schönen guten Morgen.
Barenberg: Wir haben es gerade noch mal gehört: Der Justizminister, der Leiter der JVA in Leipzig, der Generalstaatsanwalt, alle haben gestern Vormittag in einer Pressekonferenz Auskunft gegeben und noch mal rekapituliert den Ablauf der Ereignisse und ihr vorgehen und ihre Einschätzungen dazu. Sie haben ja gestern noch vor dieser Pressekonferenz den Rücktritt von Justizminister Sebastian Gemkow gefordert. Ist für Sie egal, wie der Hergang der Dinge gewesen ist und was die Fakten sind?
Kipping: Nein. Aber was man festhalten kann ist, dass schon allein dieser Vorgang und der beginnt ja nicht mit dem Suizid, sondern der beginnt ja damit, dass die Observation aufgeflogen ist; es geht weiter, dass der Zugriff nicht gelungen ist, dass man eine Flucht über 100 Kilometer nicht verhindert hat; dann gab es einen ersten Hinweis aus der Bevölkerung, darauf wurde zu spät reagiert; der Fahndungsaufruf wurde erst viel zu spät auf Arabisch veröffentlicht. Kurzum: Allein der gesamte schon Prozess der Festnahme liest sich ja wie ein Bericht aus der Reihe „Pleiten, Pech und Pannen“.
Barenberg: Da hätten Sie aber den Rücktritt des Innenministers fordern müssen, wenn es um die Polizei geht, und nicht den des Justizministers.
Kipping: Was man generell sagen kann, dass sich die sächsische CDU-geführte Regierung wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert hat und dass wir ein Problem haben, innenpolitisch wie justizpolitisch in Sachsen. Sowohl was diesen Fall anbelangt, aber auch generell muss man sagen, hat die Justiz in Sachsen, die Justizpolitik eine sehr eigenartige Schwerpunktsetzung. Und was jetzt diesen konkreten Vorgang anbelangt: Ich glaube, das verweist doch auf ein grundlegenderes Problem. Normalerweise sagt man, in so einem Gefängnis sollen 42 Mitarbeiter auf 100 Strafgefangene kommen. Das ist so die Empfehlung. In Leipzig gibt es viel zu wenig Mitarbeiter. Dort sagt man, es sind nur 33, und das wusste die sächsische Staatsregierung, weil Tillich war erst im August dort und man hat ihm davon berichtet. Das heißt, dass es da Versäumnisse gegeben hat in der ordentlichen Ausstattung der Gefängnisse, …
Barenberg: Verzeihung, Frau Kipping, wenn ich Sie unterbreche. Da müssten Sie dann dem Justizminister in Sachsen ein Lob aussprechen, denn wie es allgemein heißt ist er dafür verantwortlich gewesen und hat durchgesetzt, diesen Stellenabbau zu stoppen.
Kipping: Ja, zu stoppen. Aber offensichtlich hat es ja nicht gereicht, und ich denke, wenn jemand, der bereit ist, ein Selbstmordattentat auszuüben, der dann noch Steckdosen manipuliert, dass man dann sagt, okay, hier könne man ganz gelassen rangehen, ich glaube, das ist verheerend und das ist aus zweierlei Hinsicht verheerend. Natürlich ist es aus einer rechtsstaatlichen Sicht ein Problem, wenn jemand in der U-Haft Suizid begeht, aber es ist natürlich auch ein extremer Rückschlag für mögliche Ermittlungen und Prävention. Weil wenn jemand solche Mengen von Sprengstoff hat, dann hat er die nicht alleine, und es wäre jetzt wirklich wichtig gewesen, an die Hintermänner heranzukommen. Gerade wenn man mehr Prävention gegen die Terrorgefahr möchte, dann kann man nicht so leichtfertig damit umgehen, wenn man jemanden hat, den man auch potenziell für die Ermittlungen womöglich befragen kann.
Barenberg: Sie haben erwähnt, dass es um einen Häftling ging, der als mutmaßlicher Selbstmordattentäter galt, und viele ziehen daraus das Argument, dass dann jemand natürlich selbstverständlich suizidgefährdet ist. Man hat ja in Leipzig vor Ort eine ausgebildete, geschulte Psychologin zurate gezogen. Trauen Sie sich zu, aus dem fernen Berlin die Persönlichkeit dieses Inhaftierten in dieser Situation und seine psychische Verfassung besser einschätzen zu können als diese Psychologin in Leipzig?
Kipping: Das ist doch nicht der Punkt.
Barenberg: Sie haben das als Punkt genannt für Ihre Rücktrittsforderung. Deswegen frage ich nach.
Kipping: Ich habe ja nie den Punkt gemacht, dass ich jetzt eine Psychologin bin und die Ausbildung habe. Das ist überhaupt nicht der Punkt. Ich konnte nur vom Ergebnis her sehen und vom Ergebnis her muss ich sagen, die sächsische Landesregierung hat hier richtig, richtig Mist gebaut und wirklich ist eine richtige Gefahr für die Sicherheit in diesem gesamten Land. Denn sie hat bei der Festnahme viele Fehler gemacht. Natürlich geht es nicht allein nur um einen Rücktritt. Aber zu sagen, ja wir haben eigentlich alles richtig gemacht und ist halt dumm gelaufen, das ist, finde ich, nicht der angemessene Umgang damit. Und ich will auch noch mal sagen, das deutet sich ja in einigen öffentlichen Stellungnahmen von CDU-Abgeordneten aus Sachsen an: Es gibt mindestens zwei CDU-Abgeordnete, die in Tweets zum Ausdruck gebracht haben, dass sie das gar nicht so schlimm finden, dass es jetzt zu einer Selbsttötung gekommen ist, weil es wäre ja ein Selbstmordattentäter gewesen. Das, finde ich, offenbart ein schreckliches rechtsstaatliches Verständnis und ist außerdem vollkommen blind gegenüber dem Erfordernis, man hätte diese Person gebraucht, um in der Ermittlung und in der Prävention voranzukommen.
Barenberg: Das ist ja unbestritten. Ich wollte nur noch mal nachfragen, was die Rücktrittsforderung angeht. Mir ist aufgefallen, dass der Fraktionschef der Linkspartei in Sachsen, Rico Gebhardt, diesen Rücktritt nicht fordert, sondern eine Untersuchung. Warum sehen Sie das anders?
Kipping: Natürlich muss untersucht werden. Da sind wir vollkommen beieinander. Aber ich glaube, wir sind uns einig, das sagt ja auch Die Linke in Sachsen, dass es sich hier um einen Skandal und um riesengroße Versäumnisse handelt. Aber ich finde, in so einer Situation tut es auch Not, gerade wenn auf der Pressekonferenz die Verantwortlichen den Eindruck erwecken, sie haben da nichts falsch gemacht und sich sogar, glaube ich, teilweise die Verantwortlichen aus Sachsen jetzt wegducken, dann tut es offenbar Not, klar zu machen, dass hier was passieren muss und dass man nach so einer Folge von Pleiten, Pech und Pannen nicht einfach weitermachen kann wie bisher.
Barenberg: Die Co-Vorsitzende der Linkspartei hier live im Deutschlandfunk. Vielen Dank, Katja Kipping.
Kipping: Gerne geschehen.